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Wahlen in Taiwan: „Peking hat sich verkalkuliert“

Diesen Samstag finden in Taiwan die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Nach jüngsten Umfragen könnte Präsidentin Tsai Ing-wen ihr Amt verteidigen. Der Ausgang der Abstimmung dürfte entscheidenden Einfluss auf das zuletzt sehr belastete Verhältnis des Inselstaates zur Volksrepublik China haben.

Antworten dazu von MERICS Expertin Mareike Ohlberg aus dem Programmbereich Politik, Gesellschaft und Medien. 

Würden Sie soweit gehen zu sagen, dass Tsai Ing-wen von den Protesten in Hongkong profitieren könnte?

Tsais Zustimmungswerte sind im Laufe des vergangenen Jahres stark gestiegen. Viele Beobachter führen dies darauf zurück, dass die Proteste in Hongkong der taiwanesischen Bevölkerung klar vor Augen geführt haben, wie sich eine Wiedervereinigung mit dem Festland für sie auswirken könnte. Allerdings galt das Modell „Ein Land, zwei Systeme“ in Taiwan schon seit längerem nur wenigen als eine wünschenswerte Option. Die Drohungen von Chinas Präsident Xi Jinping, innenpolitische Faktoren sowie Fehler des Gegenkandidaten Han Kuo-yu dürften ebenfalls eine Rolle gespielt haben.

Spielen Generationsunterschiede eine große Rolle für den Wahlausgang? Umfragen zufolge sind besonders junge Wähler für eine Unabhängigkeit Taiwans.

Das kommt darauf an, wie viele dieser jungen Wähler tatsächlich ihre Stimme abgeben. 2016 lag die Wahlbeteiligung bei jungen Wählern um einiges niedriger als bei älteren. Zum Teil liegt das am taiwanesischen Wahlsystem, das keine Briefwahl erlaubt und Bürgern vorschreibt, zur Wahl in ihre Heimat zurückzukehren. Das trifft vor allem junge Taiwanesen, die im Ausland leben und arbeiten. Ich gehe allerdings davon aus, dass sich angesichts des gewachsenen politischen Bewusstseins dieses Jahr mehr junge Menschen dafür entscheiden, den Flug nach Taiwan auf sich zu nehmen.

Inwieweit hat das Festland gezielt versucht, den Wahlkampf durch Fehlinformationen oder Drohgebärden zu beeinflussen?

Anfang letzten Jahres hat Präsident Xi Jinping in einer Rede einen harten Ton angeschlagen und angekündigt, die Wiedervereinigung notfalls militärisch umzusetzen.  Dies ist zwar eine Position, die die Kommunistische Partei schon zuvor geäußert hatte, aber nicht in dieser Deutlichkeit. Die Rede hatte vermutlich zum Ziel, die Bevölkerung in Taiwan einzuschüchtern und dazu zu bringen, einen Peking-freundlichen Politiker zu wählen. Letztlich hatte sie aber den gegenteiligen Effekt.

Es gibt natürlich auch andere Kanäle der Beeinflussung. Eine ist die Beeinflussung und Desinformation über Medien, auch über soziale Medien. Wir wissen, dass es in China einen großen Apparat an Onlinekommentatoren gibt, der gezielt im Internet Artikel kommentiert und in sozialen Medien eigene Stellungnahmen postet. Dafür gibt es in China ganze Abteilungen, und einige davon sind direkt auf Taiwan spezialisiert. Diese Leute schreiben teilweise eigens in chinesischen Langzeichen.

Inwieweit reflektiert Peking, dass es mit seiner Politik das Gegenteil erreicht hat, von dem was es vermutlich bewirken wollte? Erkennen Sie ein Umdenken?

Ich sehe im Moment keine Anzeichen dafür, dass die chinesische Führung fundamental umdenkt. Das liegt teilweise daran, dass in den 1990er Jahren aus chinesischer Sicht ein versöhnlicher Ton angeschlagen wurde, mit dem die Partei nicht erreicht hat, was sie wollte. Seit über zwei Jahrzehnten ist es keine Option mehr, Taiwan politisch entgegenzukommen bzw. unter Bedingungen zu verhandeln, die nicht von der Kommunistischen Partei festgelegt wurden. Ich denke nicht, dass sich das auf absehbare Zeit ändern wird. Es gibt innenpolitisch einfach niemanden, der einen Kurswechsel herbeiführen könnte. Für jeden, der das versucht, wäre es politisch sehr riskant.

Wie nah ist der Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei Kuomintang, Han Kuo-yu, an Peking?

Wie seine Partei, die Kuomintang, im Allgemeinen, will Han intensivere Kontakte mit Peking pflegen und gilt daher als der vom Festland bevorzugte Kandidat. Er traf sich in der Vergangenheit auch mit Politikern der Volksrepublik. Es gibt außerdem Berichte, dass sein Wahlkampf für das Amt des Bürgermeisters der Stadt Kaohsiung 2018 durch eine Cyber-Gruppe vom Festland unterstützt wurde. Die Tatsache, dass Han sich selbst von dem Modell „Ein Land, zwei Systeme“ deutlich distanziert hat, zeigt jedoch, wie unbeliebt diese Option für taiwanesische Wähler ist.

Erwarten Sie unmittelbare Drohungen oder Sanktionen von China, wenn Tsai Ing-wen am Samstag gewinnen sollte?

Kleinere und symbolische Drohungen auf jeden Fall. Ich rechne mit einer Fortsetzung oder zumindest zeitweiligen Eskalation der derzeitigen Politik: Sprich Drohgebärden, aktives Abwerben von Ländern, die Taiwan noch diplomatisch anerkennen, noch mehr Druck auf ausländische Unternehmen, Taiwan als „Provinz Chinas“ zu beschreiben, und möglicherweise Schikane von taiwanesischen Unternehmen auf dem Festland. Eine militärische Eskalation oder fundamentale Änderung der Politik sind zwar nicht vollständig auszuschließen, halte ich aber für unwahrscheinlich.

Wie würde sich ein Wahlsieg von Tsai Ing-wen und der Fortschrittspartei DPP auf die Gesamtlage im Pazifik auswirken?

An der Situation im Pazifik dürfte dies nichts grundlegend ändern: Taiwan und die USA werden wie zuletzt zusammenarbeiten, voraussichtlich wird es weitere Waffenlieferungen an Taiwan geben, möglicherweise auch gemeinsame militärische Übungen. Auch wenn eine militärische Invasion derzeit unwahrscheinlich ist, bereiten sich alle Seiten zunehmend auf den Ernstfall vor.


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