30 Jahre Tiananmen: Erbe und Ausblicke
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Die gewaltsame Niederschlagung der Tiananmen-Proteste am 4. Juni 1989 war vermeidbar. Das denkt zumindest die Mehrheit der knapp 200 Gäste an diesem Abend im Auditorium Friedrichstraße. Per Smartphone können sie Fragen beantworten. Die Ergebnisse werden in Echtzeit an die Wand hinter der Bühne projiziert. Das Tiananmen-Massaker jährt sich in diesem Jahr zum 30. Mal. Moderatorin Kristin Shi-Kupfer möchte mit ihren Gästen zurückschauen auf die Geschehnisse von damals, diskutieren, was die Niederschlagung für Chinas Entwicklung bedeutet hat und in die Zukunft blicken: sind Proteste auch im heutigen China noch möglich?
Auf dem Panel sitzen die Professoren Perry Link (Princeton/Heidelberg), Sandra Heep (Bremen) und Daniel Leese (Freiburg). Ergänzt wird die Runde durch den langjährigen China-Korrespondenten von taz und Zeitonline Felix Lee. Perry Link ist mit dem Publikum nicht ganz einig: „Aus Sicht der chinesischen Führung war die gewaltsame Unterdrückung wahrscheinlich nicht zu vermeiden“, sagt er. Viele Menschen würden vergessen, dass die Proteste in ganz China stattfanden. „Es gab große Demonstrationen in mehr als 80 Städten“, weiß er, „aber als die Panzer kamen, wurden die Menschen verschreckt.“
Das Militär habe damals unkoordiniert agiert. Die chinesische Führung sei mit den landesweiten Protesten offenbar überfordert gewesen, habe aber reagieren müssen. Das Ergebnis: hunderte Tote, vielleicht tausende. Die Regierung der Volksrepublik schweigt bis heute über die Ereignisse. Veranstaltungen wie diese in Berlin sind in Beijing undenkbar. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte findet nicht statt. China war damals auf dem Weg sich international zu öffnen. „Ich konnte den Geist der Veränderung spüren“, erinnert sich der chinesischstämmige Felix Lee aus eigener Erfahrung. „Mein Cousin fing damals gerade sein Auslandsstudium an“, erzählt er. Diese neue Freiheit mündete in der zivilgesellschaftlichen Bewegung am Tiananmen Platz und in ihrem gewaltsamen Ende.
Seit der Unterdrückung der Proteste 1989 hat die politische Führung viele wirtschaftliche Reformen auf den Weg gebracht. Das rasante Wirtschaftswachstum sorgte weltweit für Bewunderung. Steigender Lebensstandard – zumindest in den Städten - und neue wirtschaftliche Freiheiten im Tausch gegen Ideale? „Für China war diese Art von Gesellschaftsvertrag erfolgreich. Nationalismus und Geld haben die moralischen Werte der Protestbewegung ersetzt“, meint Sandra Heep von der Hochschule Bremen. Daniel Leese glaubt trotzdem, dass China auch als „liberaleres“ Land noch funktioniert hätte. „Viele hochrangige Politiker hätten ihren Job auch in einer weniger repressiven Regierung fortgeführt“, erklärt der Professor für Sinologie der Universität Freiburg. Das glaubt auch knapp die Hälfte der Zuhörer, die an der Online-Umfrage teilnehmen. Viele sind allerdings unsicher und antworten lieber mit "schwer zu sagen" auf die Frage, ob China ein liberaleres Land gewesen wäre, wenn die Proteste nicht niedergeschlagen worden wären.
Die staatliche Kontrolle heute ist vermutlich größer als je zuvor. Unter Xi Jinpings Führung hat China massiv in die analoge und digitale Überwachung der eigenen Bevölkerung investiert. Laut Perry Link „sind deshalb in naher Zukunft keine größeren Proteste zu erwarten.“ Die Panelisten sind sich einig, dass soziale Bewegungen unwahrscheinlicher geworden sind. „Es kann aber immer etwas Unvorhersehbares geschehen“, gibt Daniel Leese zu bedenken. Und auch wirtschaftlich verändert sich China: Der Schritt, sich von einem Entwicklungs- zu einem Schwellenland zu entwickeln sei einfacher, als der von einem Schwellenland zu einer Industrienation. „Etwas Wachstum kann es zwar noch geben, aber China ist jetzt schon ein „high middle income country“, erklärt Wirtschaftsexpertin Sandra Heep. Die wachsende soziale Ungleichheit könne zu Unruhen führen.
Felix Lee argumentiert, dass es in China während der nächsten zwei bis fünf Jahre nicht zu größeren Protesten kommen werde. Was danach passiere, wisse er nicht. „Die Repressionen heute sind zwar enorm, gleichzeitig kann das Internet aber auch zu einer Chance werden“, so der Journalist. Tatsächlich gibt es – trotz Zensur – Möglichkeiten, sich im chinesischen Internet zu informieren und Positionen zu verbreiten. Das ist aber nicht immer ganz einfach und auch nicht immer ungefährlich. Ob das Netz zu neuen sozialen Bewegungen und möglichen Protesten führt, bleibt also unklar. Das Publikum an diesem Abend ist skeptisch und antwortet mehrheitlich mit Nein. Das Kuchendiagramm auf der Leinwand ist aber stark geteilt. Immerhin ein Drittel der Teilnehmer rechnet mit groß angelegten Protesten in China.
Veranstaltungsbericht von Mario Büscher.
Die ganze Diskussion (in englischer Sprache) können Sie hier nachhören: